Moosbeere

Chancen verpasst

Im November vergangenen Jahres hat die EU-Kommission die Zulassung des weltweit meistverkauften Herbizidwirkstoffs Glyphosat um weitere zehn Jahre verlängert. Wenn das Glyphosat-basierte “Roundup” gespritzt wird, wird es von allen grünen Pflanzenteilen aufgenommen, verteilt sich sukzessive in der ganzen Pflanze und tötet sie ab. Insekten verlieren damit einen Großteil ihrer Lebensgrundlage. Das Breitbandherbizid wirkt aber auch direkt toxisch auf Bienen, Hummeln und Käfer. Es steht zudem im Verdacht, für Menschen krebserregend zu sein.

Wenige Tage später kippte das EU-Parlament die lange geplante Pestizid-Verordnung, nach der der Einsatz chemischer Pestizide bis 2030 um 50% reduziert werden sollte. Selbst die Rücküberweisung des zuvor bereits abgeschwächten Entwurfs in den Umweltausschuss des Parlaments wurde abgelehnt.

Und schließlich: Im Februar dieses Jahres hat die EU-Kommission die Pflicht zur Stillegung von 4% (ursprünglich vorgesehen: 7%) der Ackerflächen für ein weiteres Jahr ausgesetzt. Von der Möglichkeit, die Pflichtbrache im eigenen Land dennoch umzusetzen, hat der deutsche Landwirtschaftsminister wegen des Widerstands der FDP keinen Gebrauch gemacht.

Alle ursprünglich geplanten Maßnahmen galten als Meilensteine des europäischen “Green Deal” für den Artenschutz. Sie wurden zunächst verwässert und dann - unter Druck der Agrarindustrie und protestierenden Bauern - von konservativen und rechten Politikern im EU-Parlament verworfen. Der Deutsche Naturschutzring, ein Dachverband deutscher Natur-, Tier- und Umweltschutzorganisationen, reagierte entsetzt und sprach von einem “herbe(n) Rückschlag in der europäischen Umweltpolitik”. Deutlicher noch werden die “RiffReporter”, eine Plattform-Kooperative professioneller Journalist:innen. Sie kommentieren die Beschlüsse unter der Überschrift “Freie Fahrt für Artenschwund”.

Man muss sich einmal den Kontext der oben genannten Beschlüsse bewusst machen: Wir übernutzen und zerstören die Natur seit Jahrzehnten in einem atemberaubenden Tempo. Alle Lebensräume sind davon betroffen: der Boden, das Land, das Wasser, die Luft, die Atmosphäre, das Klima. Infolgedessen sind die natürlichen Ökosysteme weltweit um die Hälfte zurückgegangen. Es gibt mittlerweile im “Anthropozän”, im Zeitalter des Menschen, mehr vom Menschen hergestellte Produkte als Biomasse. Und schließlich: Eine Million der geschätzten acht Millionen Arten ist vom Aussterben bedroht. Wir stehen am Beginn des sechsten, diesmal aber ausschließlich menschlich verursachten Massenaussterbens der Erdgeschichte.

Die Naturvergessenheit und -zerstörung hat eine Dynamik angenommen, die einen fürchten lässt, da sie - systemisch betrachtet - zu einer existenziellen Bedrohung der Menschheit geworden ist. Ohne biologische Vielfalt in der Natur ist auch der Mensch nicht lebensfähig.

Ich möchte den Begriff der “Zeitenwende” nicht strapazieren, aber die umweltpolitischen Herausforderungen der Gegenwart hätten ihn sicherlich verdient. Entscheidungen wie die des EU-Parlaments in den letzten Monaten können wir uns nicht mehr leisten. Wir müssen endlich wieder lernen, im Einklang mit der Natur zu leben. Wir müssen die Rechte der Natur einklagen und sie entschieden verteidigen gegen partikulare Interessen, auch wenn sie noch so lautstark vertreten werden.