Es gibt schöne Zufälle: Neulich schaltete ich das Radio an und hörte einen Beitrag zum Tag des Baumes (25. April). Der Moderator des Deutschlandfunks sprach mit Professor Andreas Roloff, einem namhaften Forstbotaniker, der zurzeit damit beschäftigt ist, auf Initiative der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft e.V. „Nationalerbe-Bäume“ auszusuchen – in jedem Bundesland einen. 

Auf die Frage nach seinem Lieblingsbaum tat sich Roloff schwer und wollte sich nicht festlegen. Zu groß sei die Anzahl beeindruckender Charakterbäume, die er im Laufe seiner Forschungen kennengelernt habe. Potenzielle Uralt-Bäume, die höchst individuell und schützenswert seien. Standortprobleme, übertriebene Sicherheitserwartungen, klimatischer Stress und unsachgemäße Behandlung setzten den Baumriesen zu. Das Nationalerbe-Projekt wolle diese Bäume schützen und ihnen ein „Altern in Würde“ ermöglichen. 

Roloff berichtete dann aber doch von einem Baum, den er in doppelter Hinsicht bemerkenswert findet: der Richteiche von St. Gangolf im Saarland. Zum einen hätten unlängst aufgetauchte Dokumente gezeigt, dass der Baum nicht – wie bisher angenommen – 350, sondern 650 Jahre alt sei. Er stamme aus dem späten Mittelalter. Zum anderen sei der Baum statisch einzigartig, da sein 20 m langer Stamm bis zur Spitze vollkommen hohl sei. Untersuchungen hätten aber ergeben, dass sein Mantel noch immer vital und absolut stabil sei. Roloff vergleicht es mit einer Papprolle im Küchenpapier, die kaum zu knicken sei. 

Er habe den Baum in Ruhe erkundet und sich mit ihm vertraut gemacht. Vor der öffentlichen Ausrufung der Eiche zum „Nationalerbe-Baum“ habe er sich noch einmal eine besondere Freude gemacht: Er habe seine Blockflöte und Drumsticks eingepackt und sei damit durch ein großes Astloch am unteren Stamm in den Baum hineingeklettert. Die Akustik sei fantastisch gewesen. 

Ist das nicht schön? Ein Naturwissenschaftler, der seinen Forschungsgegenstand nicht einfach nur ausmisst und analysiert, sondern hineinklettert und Musik in ihm macht. Das sind magische Erfahrungen, wie wir sie sonst nur aus Kindertagen kennen. 

Ich selbst bin als Kind gerne auf hohe Bäume geklettert, um mich in ihren Wipfeln im Wind zu wiegen – stundenlang. Meine Eltern haben sich offenbar keine Sorgen gemacht. Sie wussten vermutlich gar nicht, wo ich bin. Aber ich habe es ihnen hinterher erzählt. 

Eine unbeschwerte, ja friedliche Kindheitserfahrung. Kindern in der Ukraine (und in vielen anderen Krisengebieten der Welt) ist sie derzeit verwehrt. Hoffen wir, dass der Alptraum bald zu Ende ist. Das Alter der Nationalerbe-Bäume, ihre Unerschütterlichkeit und „Seelenruhe“ im Wechsel der Zeiten mögen uns hier vielleicht ein Trost sein. Sie haben schon viel erlebt, auch viele Kriege, und sind immer noch da. Putin wird nicht das letzte Wort haben.    

Richteiche in St. Gangolf / Saarland